Samstag, 6. Juli 2013

Wer erstattete im Fall „Ratiopharm“ Strafanzeige? Indizien, die den früheren „Stern“-Reporter Markus Grill entlasten.

Aus der von WikiLeaks im Jahr 2009 veröffentlichten Ermittlungsakte der Landespolizeidirektion Tübingen vom 12.03.2008 gegen die Ratiopharm GmbH wegen Untreue und Bestechung (Aktenzeichen: 65-DW-12/06) geht hervor, dass der frühere „Stern-Reporter und heutige SPIEGEL-Redakteur Markus Grill 2005/2006 über Geschäftspraktiken der Firma Ratiopharm im „Stern berichtet hat und gleichzeitig durch Erstattung einer „Anzeige bei der Staatsanwaltschaft München 1“ am „7.10.2005“ aktiv in das Geschehen eingegriffen haben soll. Ich habe Markus Grill, die Landespolizeidirektion Tübingen (LPD) und die Staatsanwaltschaft Ulm hierzu befragt - und keine Belege dafür gefunden, dass Markus Grill die Strafanzeige erstattet hat. Verschiedene Indizien deuten eher darauf hin, dass Markus Grill die Strafanzeige nicht erstattet hat.
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Strafanzeige, Markus Grill, Indizien für einen Irrtum
Abbildung: WikiLeaks veröffentlichte 2009 die „Ratiopharm-Akte“. Interessant - aber auch illegal und stümperhaft anonymisiert. „Ratiopharm-Ermittlungen vollständig eingestellt“ berichte die DAZ im Mai 2013.


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WikiLeaks als Quelle für einen gefährlichen Verdacht
Dass es sich bei der Enthüllungsplattform WikiLeaks um ein zweischneidiges Schwert handelt, ist hinreichend bekannt. Die Idee, Missstände öffentlich zu machen, indem geheime oder vertrauliche Dokumente ins Internet gestellt werden, klingt verlockend. Zu den Schattenseiten von WikiLeaks gehört, dass die relativ wenigen Aktivisten weder in der Lage sind, die Anonymität ihrer Informanten lückenlos zu sichern noch ausreichende menschliche und fachliche Ressourcen haben, um selbst verursachten Schaden sicher ausschließen zu können. Diese Erfahrung machte nun auch der frühere „Stern“-Reporter und heutige SPIEGEL-Redakteur Markus Grill, um den es in diesem Blog geht. Er wurde durch die leichtfertige, mangelhaft anonymisierte und in Deutschland strafbare Veröffentlichung einer Ermittlungsakte der Landespolizeidirektion Tübingen vom 12.03.2008 gegen die Ratiopharm GmbH wegen Untreue und Bestechung (Aktenzeichen: 65-DW-12/06) als Journalist schwer belastet.

Berichterstattung über selbst kreierte Ereignisse wäre ethisch inakzeptabel
Aus der von WikiLeaks im Jahr 2009 veröffentlichten Ratiopharm-Ermittlungsakte der Landespolizeidirektion Tübingen geht hervor, dass Markus Grill in den Jahren 2005 und 2006 über Geschäftspraktiken der Firma Ratiopharm im „Stern“ berichtet hat und gleichzeitig durch Erstattung einer „Anzeige bei der Staatsanwaltschaft München 1“ am „7.10.2005“ aktiv in das Geschehen eingegriffen haben soll, wenn die Angaben in der Akte korrekt wären.

In seinen „Stern“-Beiträgen zu diesem Thema hat Markus Grill auf die Ermittlungen verwiesen (1), von einer „möglichen Strafbarkeit“ gesprochen (2) und eine durch die Strafanzeige ausgelöste „Razzia bei Außendienstlern“ thematisiert (3), ohne darauf hinzuweisen, dass er laut Ermittlungsakte Strafanzeige erstattet und die Razzia selbst ausgelöst haben soll. Im Mai 2013 wurden alle Ratiopharm-Ermittlungen eingestellt (4), nachdem der BGH vorinstanzliche Urteile allesamt kassiert hat.

Wären die Angaben in der von WikiLeaks veröffentlichten und schlecht anonymisierten Ermittlungsakte korrekt, dann wäre Markus Grills Berichterstattung ein Skandal. Denn dann hätte er z.B. über eine Razzia berichtet, die er selbst ausgelöst hätte, ohne diesen Zusammenhang transparent zu machen.

Keine Belege für den Verdacht. Indizien entlasten Markus Grill.
Ich habe Markus Grill, die Landespolizeidirektion Tübingen und die Staatsanwaltschaft Ulm zu diesem Sachverhalt befragt und dabei keine Belege dafür gefunden, dass die Angaben in der Ermittlungsakte korrekt sind. Wer die Anzeige tatsächlich erstattet hat, das weiß ich nicht. Verschiedene Indizien deuten meiner Meinung nach jedoch darauf hin, dass Markus Grill die Strafanzeige nicht erstattet hat und es ein (verzeihliches) Missverständnis gab.

Markus Grill beantwortete eine Anfrage von mir am 28.06.2013 u.a. wie folgend:

„Die Rechtsabteilung des "stern" hat unmittelbar nach Bekanntwerden der Ratiopharm-Akte im Jahr 2009 in einem Schreiben an die Landespolizeidirektion Tübingen klar gestellt, dass die auch von Ihnen zitierten Informationen falsch sind. Weder der "stern" noch ich haben jemals eine Strafanzeige gegen Ratiopharm gestellt und wir haben der StA auch keine Unterlagen zur Verfügung gestellt.“

Markus Grill erhielt von mir inzwischen schon eine ganze Reihe von Anfragen (siehe: Scribd-Dokumente), u.a. zu seiner Berichterstattung über Prof. Wolfgang Stock und Jobst Spengemann sowie Adel Massaad. Meine Bereitschaft, von ihm aufgestellte Behauptungen ungeprüft zu glauben, ist seitdem sehr gering. Gleichzeitig kann ich jedoch auch feststellen, dass mich Markus Grill in den bisherigen offiziellen Anfragen nie angelogen hat. Dort, wo er durch meine Fragen potenziell schwer belastet wird, da hat er einfach geschwiegen. Dies im Hinterkopf, klingt seine Stellungnahme vom 28.06.2013 zu meinen Ratiopharm betreffenden Fragen, die ich an dieser Stelle nur auszugsweise zitiere, für mich plausibel und glaubwürdig.

Antwort der Landespolizeidirektion Tübingen:
Die Ratiopharm betreffenden Ermittlungen, um die es geht, wurden von einem Kriminalhauptkommissar der Landespolizeidirektion Tübingen (LPD) dokumentiert. Bei dem Versuch, die Vorgänge aufzuklären und Markus Grills Antwort zu überprüfen, habe ich mich in einem ersten Schritt an das Dezernat für Wirtschaftskriminalität der LPD Tübingen gewandt. Die Leiterin des Dezernats hat mich an die „für dieses Ermittlungsverfahren zuständige Staatsanwaltschaft Ulm“ verwiesen.

Antwort der Staatsanwaltschft Ulm:
Der Pressereferentin der Staatsanwaltschaft Ulm, Staatsanwältin Ayfer Kaplan-Pirl, stellte ich folgende Fragen:

„1. Ist es wahr, dass die Rechtsabteilung des Magazins "stern" im Jahr 2009 in einem Schreiben an die Landespolizeidirektion Tübingen klargestellt hat, dass Markus Grill keine Strafanzeige gegen Ratiopharm erstattet hat und der Staatsanwaltschaft auch keine Unterlagen zur Verfügung gestellt hat?

2. Können Sie dazu eine Stellungnahme abgeben, die ich öffentlich zitieren darf?

3. Wenn die Behauptung von Markus Grill falsch ist: Sehen Sie eine Möglichkeit, das Gegenteil der Behauptung von Markus Grill öffentlich zu belegen?

4. Wenn die Behauptung von Markus Grill richtig ist: Wie erklären Sie die (in diesem Fall) falschen Angaben der Ermittlungsakte zur Person Markus Grill?

5. Wenn die Behauptung von Markus Grill richtig ist: Haben sich (in diesem Fall) Mitarbeiter von Polizei/Jusitz möglicherweise strafbar gemacht?“



Frau Ayfer Kaplan-Pirl teilte mir am 05.07.2013 per E-Mail mit, dass sie meine Anfrage vom 04.07.2013 geprüft und festgestellt hat, dass mir ein Auskunftsanspruch nur teilweise zusteht. Zu meinen Fragen teilte Sie mir mit:

„Unabhängig von der Fragestellung, wie Sie sie konkret formuliert haben, ergaben die bereits abgeschlossenen Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Fall Ratiopharm bei der Staatsanwaltschaft Ulm keine Anhaltspunkte dafür, dass sich Mitarbeiter der Polizei oder der Justiz strafbar gemacht haben.

Im Übrigen darf ich Ihnen aus datenschutzrechtlichen Gründen Namen von Verfahrensbeteiligten nicht mitteilen oder bestätigen oder Auskünfte erteilen, die Rückschlüsse auf die Identität bestimmter Verfahrensbeteiligter zulassen.“


Diese Antwort lässt Raum für unterschiedliche Interpretationen. Aus meiner Sicht hätte Frau Ayfer Kaplan-Pirl meine Frage Nr. 1 gemäß ihrer eigenen Kriterien sehr wohl beantworten dürfen. Ob die Rechtsabteilung des Magazins „Stern“ in einem Schreiben zu dem Vorgang Stellung genommen hat oder nicht, das lässt nach meinem Verständnis keine Rückschlüsse auf die Identität von Verfahrensbeteiligten zu. Dass sie mir Frage Nr. 1 nicht beantwortet hat, bewerte ich als Indiz dafür, dass ihre Antwort zumindest in Teilen auch eine politische Antwort sein kann und sie ihren Ermessensspielraum in einer Weise genutzt hat, von der zum Schluss vielleicht sogar die Staatsanwaltschaft Ulm selbst profitiert.

Zugunsten der Staatsanwaltschaft Ulm und der LPD Tübingen ist zu sagen, dass die Person des Anzeigenerstatters in den gesamten Ratiopharm betreffenden Ermittlungen ein unbedeutender Randaspekt war und ist. Weder die Staatsanwaltschaft Ulm noch die Landespolizeidirektion Tübingen konnten absehen, dass sich später einmal die von mir gestellte Frage ergibt, weil die Ermittlungsakte - stümperhaft anonymisiert und illegal - bei WikiLeaks veröffentlicht wird. Rückblickend bleibt auch der Eindruck, dass der Fall Ratiopharm mit allen seinen Facetten (Ermittlung, Einstellung und Wiederaufnahme der Ermittlungen, Gerichtsurteile, die später wieder vom BGH kassiert wurden etc.) demonstriert hat, dass wir in einem funktionierenden Rechtsstaat leben.

Ein weiteres Grill entlastendes Indiz
Es gibt übrigens noch ein weiteres Indiz, welches tendenziell dafür spricht, dass Markus Grill tatsächlich nur durch ein Missverständnis als Anzeigenerstatter in die Ratiopharm-Ermittlungsakte gelangte. Es gibt keinen plausiblen Grund, warum der 2005 in Hamburg wohnende Journalist eine Strafanzeige ausgerechnet bei der Staatsanwaltschaft München 1 hätte erstatten sollen. Gewöhnlich wird eine Strafanzeige am Wohnort (das wäre Hamburg gewesen) oder direkt bei der zuständigen Staatsanwaltschaft (in diesem Fall Ulm) erstattet. München könnte hingegen der Wohnort des „Stern“-Informanten sein.

Was für mich persönlich bleibt, ist der Eindruck, dass Markus Grill ethisches Fehlverhalten aufgedeckt und seine Arbeit als investigativer Journalist - im Fall Ratiopharm - gut gemacht hat. Das bestätigen indirekt auch andere Medien wie z. B. die Wirtschaftswoche in ihrer Analyse der Tübinger Ermittlungsakte („Geld und Geschenke für Ärzte“, WiWo, 17.11.2009).
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Quellen:
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(1) „Langwierige und umfangreiche Ermittlungen, Markus Grill, Stern.de, 13.04.2006 

(2) „Ratiopharm-Vertriebschefin entmachtet
, Markus Grill, Stern.de, 31.05.2006 

(3) „Razzia bei Außendienstlern
, Markus Grill, Stern.de, 18.12.2006 

(4) „Staatsanwalt stellt Ratiopharm-Ermittlungen ein
, DIE WELT, 28.06.2013
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