Sonntag, 8. September 2013

„Alarmsignal“: hinterfragungswürdige AOK-WIdO-Studien im SPIEGEL. Heute die PKV, gestern das Analoginsulin Lantus.

„In der privaten Krankenversicherung leiden vor allem Senioren unter hohen Beiträgen“, teilt uns Cornelia Schmergal im SPIEGEL Nr. 36/2013 mit. Ihr Artikel über eine „noch unveröffentlichte Studie“ des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) und Daniel Bahrs „Rettungspaket für die PKV“ (Zitat von AOK-Chef Jürgen Graalmann) hat für mich eine Reihe von Schönheitsfehlern. Analysiert das WIdO die Zufriedenheit von PKV-Kunden, dann ist das ein wenig so, als ob sich die Konrad-Adenauer-Stiftung mit der Zufriedenheit von SPD-Mitgliedern auseinandersetzen würde. Seltsam finde ich auch, dass die Studie noch nicht veröffentlicht und somit auch noch nicht von der Scientific Community kritisch geprüft wurde, Cornelia Schmergal jedoch - ihre eigene Botschaft bestätigend - von „wissenschaftlich aber gut fundiert“ spricht. Eine frühere Studie, die ebenfalls politische Interessen der AOK betraf und in der WIdO- und IQWiG-Mitarbeiter das angebliche Krebsrisiko von analogen Insulinen analysierten, stellte sich nach Prüfung der Daten durch die Wissenschaft als Luftnummer heraus.
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Lantus und kein Krebs.
Welch ein Zufall: In zeitlicher Nähe zu Preisverhandlungen zwischen AOK und Sanofi, das analoge Insulin Lantus betreffend, berichten Markus Grill und Veronika Hackenbroch 2009 reißerisch über angebliche Krebsrisiken. Die im SPIEGEL verbreiteten angeblichen Schlussfolgerungen von mehreren Studien erweisen sich als klare Fehleinschätzung. Die Preisverhandlungen sollen für die AOK hingegen sehr erfolgreich verlaufen sein. Den Mut, die heutige Kenntnislage zum angeblichen Lantus-Krebsverdacht zu veröffentlichen, hatten Markus Grill und Veronika Hackenbroch bisher nicht.
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WIdO Nr. 1: Insulin Glargin
In zeitlicher Nähe zu Preisverhandlungen zwischen AOK und Sanofi, das analoge Insulin Lantus betreffend, berichten Markus Grill und Veronika Hackenbroch 2009 reißerisch über angebliche Lantus-Krebsrisiken. „Dünger für Krebszellen“ lautet der - meines Erachtens ganz klar und eindeutig Ziffer 14 des Pressekodex verletzende - Titel ihres Artikels. Die European Medicines Agency weist nur kurzer Zeit später in einer Pressemitteilung darauf hin, dass die WIdO-IQWiG-Studie (und weitere veröffentlichte Studien) keinerlei Aussagen zum Lantus-Krebsrisiko zulassen, weder positive noch negative Aussagen, und die Daten der Studien inkonsistent sind. Heute schreibt sogar das IQWiG auf einer Webseite mit Patienteninformationen (siehe: Nachtrag), dass bisherige Untersuchungen widersprüchliche und lückenhafte Ergebnisse geliefert haben und eine aktuelle neue Studie die Sicherheitsbedenken zu Glargin nicht bestätigt hat. Die Preisverhandlungen sollen für die AOK hingegen sehr erfolgreich verlaufen sein.

+ + + Nachtrag: + + +
Die vom IQWiG herausgegebene Patienteninformation „Sicherheit des langwirksamen Insulinanalogons Glargin (Lantus)“ auf der Website www.gesundheitsinformation.de, auf die ich hier verlinkt habe, war vom 15.12.2009 bis 08.09.2013 online verfügbar und enthielt u.a. die Aussage: „Das langwirksame Insulinanalogon Glargin stand in den letzten Jahren im Verdacht, das Risiko für Krebs zu erhöhen. Bisherige Untersuchungen lieferten jedoch widersprüchliche und lückenhafte Ergebnisse.“ Nach Erscheinen dieses Blogbeitrags ist die oben verlinkte Seite unter www.gesundheitsinformation.de plötzlich, ohne Angabe von Gründen und ohne jede Dokumentation verschwunden, seit November 2013 nicht mehr erreichbar. Hierzu habe ich der Pressestelle des IQWiG am 25.11.2013 eine umfangreiche Anfrage geschickt.

Detaillierte Hintergrundinformationen zu diesem Vorgang:

30.11.2013: Blogbeitrag mit Folgen? Über das plötzliche Verschwinden einer IQWiG-Information zur Sicherheit von Insulin Glargin (Lantus)
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Der langjährige Journalist Prof. Wolfgang Stock nahm den reißerischen Artikel „Dünger für Krebszellen“ damals zum Anlass, eine Beschwerde beim Deutschen Presserat einzureichen. Die Entscheidung des Deutschen Presserats, Grills und Hackenbrochs Darstellung als zulässige Verdachtsberichterstattung einzustufen, dürfte rückblickend und mit Kenntnis der EMA-Pressemitteilung, die beim Einreichen der Beschwerde noch nicht vorlag, als klare Fehlentscheidung bewertet werden. Markus Grill äußerte sich später in schwer rufschädigender Weise zu Prof. Wolfgang Stock (Info 1, Info 2, Info 3), was dieser als unfeine Revanche für seine Beschwerde beim Presserat einstuft, und löste damit (und mit seinen rufschädigenden Behauptungen zum Frontal 21-Autor Jobst Spengemann) auch dieses Watchblog zu seiner Person aus.
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WIdO Nr. 2: PKV-Kritik
Nun also wieder eine WIdO-Studie, die politische Interessen der AOK betrifft, Kontrahenten der AOK in ein schlechtes Licht stellt und wiederum im SPIEGEL - noch vor ihrer Publizierung !!! - thematisiert wird. Eine wissenschaftliche Arbeit noch vor ihrer Veröffentlichung zu erwähnen, ist für Journalisten hochgradig attraktiv, weil es Aktualität, Spannung und Exklusivität verspricht - oder mit anderen Worten: Auflage und verlegerischen Profit. Für Wissenschaftler sind Kommentierungen von noch nicht publizierten wissenschaftlichen Veröffentlichungen hingegen der Inbegriff von Unprofessionalität und Unseriösität. Warum? Weil wissenschaftliche Arbeiten immer nur im Kontext des Echos der Scientific Community bewertet werden können. Ob eine Studie etwas taugt oder nicht, das entscheidet sich in den Wochen und Monaten nach (!) ihrer Veröffentlichung, wenn andere Expertinnen und Experten die Daten, Hypothesen und Schlussfolgerungen kritisch und fachkompetent durchleuchten. Journalisten fehlt hingegen in der Regel das Fach- und Hintergrundwissen, um die Qualität einer wissenschaftlichen Arbeit bewerten zu können.

Einen journalistisch seriösen Weg, mit diesem Dilemma (Zeitverlust versus Risiko der Fehldeutung) umzugehen, zeigt uns das Handelsblatt. Seine Redaktion machte kürzlich genau das Gegenteil von SPIEGEL-Redakteurin Cornelia Schmergal. Sie stellte eine von den Privaten Krankenversicherungen finanzierte Studie des Rheinisch Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung vor (siehe auch: FAZ-Artikel ), ohne z. B. die Sichtweise der GKV zu brücksichtigen. Das Handelsblatt bietet seinen Lesern jedoch auch sehr fundierte und kritische Analysen zur Problematik von PKV („Ein Fall für die Notaufnahme“) und zur Problematik des Konzepts der Bürgerversicherung („Leider bürgerversichert?“). Die Redaktion bemüht sich sehr darum, Kontroversen pluralistisch zu erschließen und hier mehr als nur eine einzige Sichtweise zu berücksichtigen.
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Ein klassisches „SPIEGEL-Problem
Die intellektuelle Fähigkeit und die politische Bereitschaft, kontrovers diskutierte Themen von unterschiedlichen Perspektiven aus kritisch, fair, ausgewogen und fundiert zu beleuchten, ist in der SPIEGEL-Redaktion meiner Meinung nach traditionell eher gering ausgeprägt. Der Journalist, Publizist und Verleger Wolfram Weimer schreibt bei SPIEGEL ONLINE [sic!] :

„Wenn Zeitungen heute also sterben, wenn Medien immer mehr misstraut wird, wenn Journalisten ihrer Deutungsmacht beraubt werden, dann hat das auch damit zu tun, dass sie hundefutterartigen "Content for people" produzieren, aber keine Geschichten und Wahrheiten mehr.“ 
    -> In der geistigen Schuldenfalle, SPON, 10.08.2013
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Klingt nachvollziehbar, oder? In einem Wirtschaftswoche-Beitrag von Peter Steinkirchner, Christian Meier und Jens Schröder zur SPIEGEL-Personalie Nikolaus Blome heißt es:

„Die Auflage des „Spiegels“ sinkt seit Jahren. Im Zehn-Jahres-Vergleich büßte der „Spiegel“ 17,7 Prozent der Auflage ein; im Einzelverkauf sogar 42,3 Prozent. Im zweiten Quartal 2013 war sie so niedrig wie zuletzt vor knapp 30 Jahren“,
    -> Die wahren Probleme beim Spiegel, Wiwo.de, 02.09.2013),

Wenn dem so ist, dann liegt die Ursache für den kontinuierlichen Niedergang möglicherweise nicht nur im Bereich des Internets mit seiner großen Konkurrenz an Medien, Kanälen und Reizen, seinen Ertragsmodellen und in der (auch durch das Internet geförderten) starken Segmentierung und „Clusterisierung“ unserer Gesellschaft. Ich vermute, dass die inhaltliche und qualitative Ausrichtung ebenso eine große Rolle spielt und viel mit journalistischen Talenten und Köpfen zu tun hat.


Links zum Thema:
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#PKV: Das Institut für Mikrodaten-Analyse (IfMDA) errechnet für das Gesundheitssystem im Jahr 2060 eine Lücke von mehr als 1.000 Milliarden Euro. 30 Empfehlungen von Kapitaldeckung bis Annäherung der Versicherungssysteme.

#Markus Grill & AOK: Jagd im gleichen Revier: über SPIEGEL, Frontal 21 und die Fließbandproduktion von Skandalen im Gesundheitswesen
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#Markus Grill & IQWiG: Schwarzweißmalerei und der Vorwurf des Günstlingsjournalismus, dokumentiert am Beispiel Peter Sawicki (ehemals IQWiG-Chef)
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